Tag: Taube
Die Taube
Sommerstille. - Mit dem leisen
Windhauch weht ein Lindenduft.
Über meinem Haupte kreisen
Zahme Tauben in der Luft.
Schwanken, schwenken und zerstieben,
Und der Himmel schlürft sie ein.
Eine einz`ge ist geblieben,
Flattert noch im Sonnenschein.
Höher -! Fittich nicht noch Köpfchen
Unterscheid' ich mehr genau.
Ein versprengtes Silbertröpfchen,
Funkelt sie im Dunkelblau.
Und sie zieht die hellen Kreise
Durch den stillen Sommertag:
Und sie sucht auf ihre Weise
Ihre Heimat, ihren Schlag.
Eingeborenem Befehle
Folgt ihr scheuer Flügelschwung;
Und in ihrer kleinen Seele
Dämmert die Erinnerung:
Fernab hinter Wald und Dörnern
Liegt ein schlichtes Haus geblockt;
An der Tür hat sie mit Körnern
Eine Kinderhand gelockt ...
Kleine Taube, kleine Taube,
Kommt die Nacht erst, hast du Ruh`!
Eines Dichters frommer Glaube
Sucht den Heimweg oft, wie du.
Und die Sonne hat dem Blinden
Ganz umsonst ihr Licht entfacht -
Und er darf die Heimat finden
In der Nacht erst, in der Nacht.
~*~
Rudolf Presber
1868 - 1935
Anne Seltmann 17.06.2022, 16.40 | (2/0) Kommentare (RSS) | TB | PL