Ausgewählter Beitrag
Reisefieber
Sie war mit dem Fahrrad unterwegs auf einer Allee, die schnurgerade auf ein düsteres Gebäude zuführte. Am liebsten wäre sie umgedreht, aber nun schlich das Haus am Ende der Bäume mit jedem Tritt in die Pedale unaufhaltsam näher. Wie ein Trichter zogen die Bäume sie magisch zu dem Haus hin. Von der Nordsee her wehte ein recht kalter Wind und die Felder hinter den Alleebäumen waren verschneit. Obwohl Anne recht sportlich war, kam sie nur langsam voran. Aber das machte nichts, denn bis zur Verabredung mit ihrer Freundin Beate hatte sie noch Zeit und würde bis um Dreiviertel 12 sicher beim Irrenhaus ankommen. Was sie dort sollte, war ihr aber immer noch nicht richtig klar. Beate hatte sie gegen 11 Uhr am Telefon gebeten, sie während ihres Dienstes als Psychiaterin in der psychiatrischen Klinik zu besuchen. Es ginge um eine Patientin, deren Geschichte sehr im Dunkeln liege und Anne könne da eventuell etwas zur Aufklärung beitragen. Natürlich wollte Anne helfen, aber sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, vielleicht in die Geschichte einer psychisch kranken Person verstrickt zu sein. Da sie aber morgen verreisen wollte, hatte sie vorgeschlagen, so schnell wie möglich zu kommen und sich sofort auf den Weg gemacht.
Schon gegen halb 12 erreichte sie den Eingang der Klinik. Fasziniert betrachtete sie die Gitter vor den Fenstern. Einige waren äußerst schön verziert, aber man durfte nicht vergessen, dass sie dazu dienten, Menschen gefangen zu halten. Über der geschlossenen, schweren Tür war die Zahl 1880 zu lesen und Anne meinte sich zu erinnern, dass das Gebäude ursprünglich ein Gutshaus gewesen war. Sie war ziemlich belesen und mochte historische Romane. Diesen Ort konnte sie sich gut als geheimnisumwitterten Schauplatz einer Geschichte rund um Gutsherren und ihre Landwirte vorstellen. Sie mochte es, wenn solche Romane auch skurrile Typen enthielten und Züge eines Krimis bekamen mit Zutaten wie Verschwörung, vielleicht Gift oder Brandstiftung, Aasfressern, die um Leichen herumkrabbelten und natürlich ganz viel Liebe.
Als Anne versuchte, die schwere Tür zu öffnen, fiel ihr wieder ein, was das Haus heute beherbergte, denn natürlich war die Tür verschlossen. Also drückte sie auf den Knopf neben dem Schild „Besucherklingel“ und war erleichtert, aber auch etwas überrascht, als ihr schon nach kurzer Zeit von Beate persönlich geöffnet wurde. Naja, schließlich waren sie ja verabredet gewesen, erklärte sich Anne diesen Umstand.
Die Freundinnen begrüßten sich etwas weniger herzlich als sonst, denn irgendwie war die Atmosphäre bedrückend. „Warum bin ich denn nun hier?“, wollte Anne wissen.
„Wir haben seit einigen Tagen eine Patientin hier, von der wir weder Namen noch Herkunft kennen“ erklärte Beate. „Wir wissen nur, dass die Unbekannte offenbar eine Straßenkünstlerin ist, eine Art Puppenspielerin, denn sie hatte einen Puppenwagen bei sich, in dem verschiedene Figuren, wie z. B. eine Stoffelfe, ein Teddybär und eine wie Rotkäppchen gekleidete Puppe waren. Sie wurde in verwirrtem Zustand bei uns eingeliefert. Man hatte sie auf dem Weihnachtsmarkt orientierungslos aufgefunden. Leider redet sie kaum, auch wenn sie inzwischen weniger verwirrt erscheint.“
„Und was habe ich damit zu tun?“, wunderte sich Anne.
„Die Frau zeichnet viel und wir haben das Gefühl, dass die sehr klaren und präzisen Zeichnungen etwas mit ihrer Geschichte zu tun haben. Ich würde dich gerne der Patientin vorstellen und dir dann eine Zeichnung von ihr zeigen“, sagte Beate. Anne wusste zwar immer noch nicht, was das mit ihr zu tun hatte, folgte ihrer Freundin aber einen Korridor hinunter, an dessen Ende sich ein freundliches Café befand. Das sieht eigentlich ganz normal hier aus, dachte Anne, als sie an der gläsernen Eingangstür sogar eine Speisekarte entdeckte, und zog gewohnheitsmäßig schnell ihren Lippenstift nach, was sie immer tat, wenn sie ein Restaurant oder Ähnliches betrat. Im Raum befand sich zur Zeit nur eine Person, die damit beschäftigt war, Geschirr von den Tischen zu räumen und auf einem Tablett in einen Nebenraum zu tragen. Sollte diese Frau mittleren Alters die Patientin sein? Sie war so beschäftigt, dass sie die Hereinkommenden gar nicht bemerkte.
Als Beate laut „Hallo“ sagte, blickte sie auf, starrte Anne an und ließ das vollgepackte Tablett fallen. Mit einem ohrenbetäubenden Krachen stürzte das Geschirr zu Boden. Die Frau jedoch gab keinen Laut von sich und kauerte neben dem Trümmerhaufen der Zerstörung am Boden. Auch Anne war zu Tode erschrocken und wollte weglaufen, aber Beate hielt sie fest. „Bitte bleib“, flüsterte sie. „Ich glaube, wir werden gleich etwas Interessantes erfahren, denn irgendetwas hat dein Erscheinen hier bei ihr ausgelöst.“ Da schrie die Frau auf einmal laut und zeigte mit dem Finger auf Anne: „Sie ist tot! Was macht sie hier?“ Beate führte die Patientin an einen Tisch, auf dem einige Blätter Papier in wildem Durcheinander lagen und winkte Anne heran, die zögernd näher trat. Bei näherem Hinsehen entpuppten sich die Papiere als Zeichnungen. Anne erkannte ein Segelboot mit einem Rettungsring, ein Riesenrad, ein achteckiges kleines Gebäude, das wohl ein Pissoir sein sollte, einen Feuerwehrmann. Es waren wirklich gute Zeichnungen, die anscheinend diese Frau angefertigt hatte. Als Beate die Zeichnungen etwas auseinanderschob, tauchte plötzlich ein Blatt auf, das wie ein Phantombild aussah. Die vielen Fingerabdrücke zeugten davon, dass es schon durch viele Hände gegangen war und, wie ein Beweisfoto, anscheinend sehr wichtig war. Es zeigte eine Frau, nein, es zeigt SIE SELBST, Anne! Sie war ausgesprochen gut getroffen und irgendwie stimmte jedes Detail. Sogar die Perlenkette, die sie auch heute trug, war zu sehen. Anne erstarrte. Wie konnte das sein? Diese Frau hatte sie doch noch nie gesehen! Warum hatte sie ein Bild von ihr gezeichnet? Und warum hatte sie behauptet, dass Anne tot sei?
Offenbar vom Lärm des fallenden Geschirrs alarmiert, war inzwischen eine Pflegerin hereingekommen und hatte die Patientin, die Anne unverwandt anstarrte, mitgenommen. Anne saß zitternd auf ihrem Stuhl. „Ich hole dir ein Glas Wasser und etwas aus unserer Apotheke. Du bist ja ganz blass“, hörte sie Beate sagen. „Wir hatten schon die Vermutung, dass die Patientin von Visionen heimgesucht wird. Sieht ja fast so aus, als hätte sie dich irgendwo als Opfers eines Verbrechens, dessen Augenzeuge sie war, gesehen.“ Mit diesen Worten verließ Beate das Café und ließ die geschockte Anne einfach so allein. Hatte sie da etwa gerade einen amüsierten Unterton in den Worten ihrer Freundin gehört? Was war hier los? Noch bevor sie ihre Gedanken ordnen konnte, tauchte Beate schon wieder wie ein Schatten neben ihr auf und streckte ihr ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin. Anne stürzte das Wasser herunter und bereute es sofort, denn das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Freundin, die sie zum Trinken ermunterte, war nicht mehr freundlich und vertraut, sondern eher höhnisch und bedrohlich. Was wurde hier gespielt? Anne kannte augenblicklich nur noch einen Gedanken: Flucht aus diesem Haus, aus dieser Gegend. Möglichst mit einem schnellen Fluchtauto. Sie sprang fast gleichzeitig mit Beate vom Stuhl auf und begann einen Wettlauf mit dieser durch den langen Korridor Richtung Ausgang. Während sie lief und lief konnte sie immer schlechter sehen. Die Korridorwände verschwammen in einem Nebelgrauen, sie konnte nur noch den Fußboden erkennen und orientierte sich an dort aufgeklebten Fußabdrücken, die sie hoffentlich zu der schweren Eingangstür führen sollten. Auf einmal verlor sie den Boden unter den Füßen und stürzte irgendwo in die Dunkelheit hinab. Dann hörte sie ein heftiges Piepen und schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, befand sie sich in ihrem heimischen Bett. Es war 7 Uhr. Sie machte den Wecker aus und sah zum Fenster hinaus. Es hatte über Nacht fast einen halben Meter geschneit. Da würde das mit dem Besuch im einsamen Gutshaus ihrer alten Freundin Beate schwierig werden, denn dort kam man nur mit dem Auto hin. Schade eigentlich, denn sie hatte sich auf den Besuch gefreut, weil sie Beate schon ewig nicht mehr gesehen hatte, seit diese den Job als Psychiaterin in Süddeutschland angenommen hatte. Noch am Abend hatte sie sich ausgemalt, was sie vielleicht für spannende Geschichten aus der Psychiatrie zu hören bekommen würde. So richtig fit fühlte sie sich auch nicht, hatte irgendwie schlecht geschlafen und irgendetwas Verrücktes geträumt, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte. Reisefieber vielleicht? Wie auch immer. Sie musste die Reise absagen und irgendwie hatte sie das Gefühl, dass das nicht nur wegen des Schnees die richtige Entscheidung war.
Mit freundlicher Genehmigung durfte ich den Text veröffentlichen, das © Copyright liegt natürlich bei der Autorin!Anne Seltmann 02.02.2015, 06.08
Hallo Anne,
es ist einige Zeit verstrichen, doch jetzt komme ich endlich dazu, allen Teilnehmern und insbesondere Sandra, meinen Dank zu sagen. Ehre wem Ehre gebührt. :)
Hier klicken
Deine Geschichte ist wirklich sehr gut und spannend geschrieben.
Ich finde das eBook jedenfalls sehr gelungen. Hast Du es auch schon gelesen?
LG Timm
vom 03.10.2015, 00.47