Ausgewählter Beitrag
Die Geschichte von der Wahrheit
(c) MärchenWirkstatt Nikolaus Kolleth 1999
Vor langer Zeit beschloß einst die Wahrheit unter die Menschen zu gehen. Und so ging sie in die nächste Stadt. Als die Menschen sie sahen, rannten sie schreiend davon. Die Kinder stieben vor Angst in alle Richtungen davon, die Frauen schlossen Türen und Fenster und die Männer wandten sich um. Denn die Wahrheit war nackt und dunkel. So ging es der Wahrheit immer, sobald sie einem Menschen begegnete. Darüber wurde sie sehr traurig.
Eines Tages sah sie in den Straßen einer Stadt ein anderes Wesen. Das lachte und hatte Kleider aus buntem Stoff und farbige Tücher um. Es schwebte federleicht durch die Straßen und war umringt von lachenden Kindern, die an seinen Kleidern hingen, die Frauen öffneten die Türen und lehnten sich freudestrahlend aus den Fenstern, die Männer wandten sich ihm zu und lächelten.
Da ging die Wahrheit auf das Wesen zu: "Wer bist du? Und wie kommt es, daß dich die Menschen so gerne um sich haben und immer wenn sie mich sehen rennen sie voller Angst davon?" "Ich bin das Märchen", antwortete ihr das fremde Wesen, "und wenn ich dich so anschaue, verstehe ich die Menschen gut. Du bist nackt und dunkel und siehst furchterregend aus. Komm mit mir." Und das Märchen nahm die Wahrheit bei der Hand und führte sie in ein Geschäft. Dort behängte sie die Wahrheit mit wenigen bunten Tüchern und kleinen Schmucksteinen. Und so gingen die beiden wieder hinaus auf die Straßen und die Menschen rannten nicht mehr schreiend davon.
Seit dieser Zeit kann es gelegentlich geschehen, daß sich die Wahrheit im Gewande des Märchens zeigt.
Anne Seltmann 30.08.2009, 10.32
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